Der Charme des Unfertigen – oder: einfach mal machen
Manchmal ist es gerade das Unperfekte, das etwas perfekt wirken lässt. In der Architektur gibt es kluge Ansätze, die mit dem Unfertigen, Authentischen oder Minimalistischen spielen und durch eine eigene Ästhetik überzeugen. Eine Betrachtung.
Wenn man von „Architektenhäusern“ spricht – und das sind die Mehrzahl der auf URLAUBSARCHITEKTUR gelisteten Häuser – geht man in der Regel davon aus, dass das Design der Häuser bis ins letzte Detail durchdacht und, nun ja: auf die Ewigkeit ausgelegt ist. In den Neubauten scheint alles aus einem Guss zu sein und auch in den sanierten Objekten ergänzen sich alte und neue Elemente bis zur Perfektion, alles ist durchchoreografiert. Diese Perfektion ist wohltuend für das Auge und natürlich ein wichtiges Qualitätskriterium geworden.
Manchmal aber ist es gerade das Unperfekte, das etwas perfekt wirken lässt – da gibt es die schiefe Wand, die in die Jahre gekommenen Kacheln oder die alte Tapete, die auf den ersten Blick das ästhetische Auge zu stören scheinen, um einen Moment später als besonders charmant wahrgenommen zu werden.
In der Architektur beziehungsweise deren Nutzung findet man zahlreiche Ansätze, die sich das Prinzip des Unfertigen oder Unperfekten zu eigen machen. In Europa gehen die Niederländer besonders spielerisch mit dem Thema um – im deutschsprachigen Raum scheinen wir uns schwerer zu tun, ohne Regelwerk auf ein offenes Ergebnis hinzusteuern. Vielleicht ist es das Mehr an Regularien, oder vielleicht doch die fehlende Mentalität des „Einfach-mal-machens“? Dabei gibt es auch hierzulande wie auch in anderen europäischen Ländern charmante Ansätze, die durch eine eigene Ästhetik überzeugen. Dazu gehören neben dem bewusst Unperfekten in durchgestalteter Architektur auch die temporäre Bespielung leerstehender Gebäude, vorübergehend bewohnbare minimalistische Wohnkonzepte oder ein authentisches Urlauben mit Verzicht auf Komfort. Eine kurze Betrachtung.
Dazwischen und auf Zeit.
Das Prinzip Pop-up (oder auch Pop-Down) macht sich den Trend zum Unperfekt-Sein zunutze – und erfreut sich seit einigen Jahren großer Beliebtheit: Ladengeschäfte, Eventspaces, Restaurants oder auch Hotels tauchen für begrenzte Zeit an den ungewöhnlichsten Orten auf. Häufig werden leerstehende Räumlichkeiten genutzt, für eine Zwischenzeit oder vor einem Gebäudeabriss. Vor dem Hintergrund der Veränderungen der Immobilienlandschaft sind Zwischennutzungen in Großstädten besonders attraktiv. Dabei ist es meist der unkomplizierte und provisorische – und damit unperfekte – Umgang mit dem Vorhandenen, das den Charme der meisten Locations ausmacht: Manchmal zeugen roh belassene Wände von der vorherigen Nutzung der Räume, manchmal das Low-Design des Interieurs oder auch einfach die Tatsache, dass sich hinter einer heruntergekommenen Hausfassade ein wahres Schmuckstück verbirgt – überraschende Effekte gibt es in unterschiedlicher Ausprägung.
Gerade bei den Pop-Up-Unterkünften steht der Reiz des Ungewöhnlichen im Vordergrund – ob bei der Umnutzung ehemaliger Geschäftsgebäude wie beim Hotel-Happening The Lovelace in München, das für eine begrenzte Zeit ein denkmalgeschütztes Bankgebäude in einen inspirierenden Veranstaltungsort mit einigen B&B-Zimmern verwandelte, oder im temporären Hotel WDrei, einem leerstehenden Hotelanbau an der Münchner Oper, das die Gäste zum Frühstück in nahegelegene In-Locations schickt.
Ein ausgefallenes Konzept bietet die britische Reiseagentur Black Tomato mit einmalig und kurzzeitig bewohnbaren Glamping-Unterkünften an abgelegenen Orten der Welt an. Und in der Schweiz sind im Rahmen der Kampagne „Swiss Urban Sleeping“ rund ein Dutzend außergewöhnliche Hotelzimmer entstanden, die jeweils nur für wenige Monate vermietet wurden. Die Liste ließe sich beinahe endlos fortsetzen.
Provisorisch und minimal.
Ähnlich provisorisch, wenn auch ganz anderer Natur, sind temporär genutzte Unterkünfte wie die in Japan populären Kapselhotels: minimalistische Schlafkojen, die aufgrund ihrer kurzzeitigen Nutzung auf Komfort verzichten und mit dem Reiz der Reduktion spielen. Über eine sinnvolle Verkleinerung des Wohnraums wird immer wieder diskutiert – ob aus Mangel an Fläche oder auch aus Gründen des überteuerten Immobilienmarktes. In Ländern wie Japan ist das Wohnen auf wenigen Quadratmetern völlig normal. Hier sind die ersten auch als Wabenhotels bekannten Schlafkojen schon 1979 entstanden, aus Gründen der genannten Raumknappheit: Die Unterkünfte bieten nicht viel mehr an als bienenwabenartig angeordnete Schlafkojen, die zwar sehr funktional und etwas provisorisch, keinesfalls aber gemütlich wirken. In einigen deutschen Städten wurde das Konzept in den letzten Jahren aufgegriffen – das Berliner Space-Night-Capsule-Hostel versprüht eher Sciencefiction-Charme, das Cab20 in Hamburg und das Area 247 in Karlsruhe sind etwas lässiger und mit einem ansprechenden Gemeinschaftsbereich versehen und das Boxhotel in Hannover verkörpert die moderate Form mit sehr kleinen, holzverkleideten Kabinen – minimalistisch, aber dennoch gemütlich. Auch die mit dem Tourismuspreis ausgezeichneten Sleeperoo-Schlafwürfel bieten Schlafgelegenheiten auf minimalster Fläche: Die nachhaltigen und flexibel im Steckbauprinzip aufbaubaren Würfel machen ungewöhnliche Orte wie Museen oder Häfen temporär zum Hotelzimmer.
Und manchmal sind es gerade die ganz einfachen Ideen, die überzeugen: So hat das Amsterdamer Architekturbüro Overtreders W anlässlich des 200. Geburtstages der niederländischen Gemeinde Veenhuizen mit dem Stable Stack eine temporäre Unterkunft errichtet, die ausschließlich aus geliehenen Materialien besteht. Die auf einem Betonpfeiler erbaute Struktur aus Holz und jeder Menge weiterer Elemente wie Dachziegeln oder Trapezblech wird einzig von leuchtend grünen Gurten zusammengehalten.
Authentisch und unperfekt.
Der Trend des Urlaubmachens in möglichst „authentischen“ Unterkünften impliziert ebenfalls den Reiz des Unperfekten.
Die Nutzung bestehender Räume war die Ursprungsidee bei der Entstehung der Grätzlhotels, einem Projekt der Wiener Urbanauten: Die Gäste wohnen in umfunktionierten, ehemaligen Läden in zentraler Lage und haben durch die enge Anbindung an die Nachbarschaft die Möglichkeit, das Leben im Viertel zu erleben.
Das Konzept basiert im Grunde auf der Idee der Albergo Diffuso, ein Konzept aus Italien – ursprünglich gedacht, um ausgestorbene Dörfer durch die Einbindung von im Ort verstreuten Ferienunterkünften wiederzubeleben. Wie in den Gräzlhotels geht es um die Einbindung von touristischen Unterkünften in die gewachsene Umgebung, um das authentische Wohnen und das Nutzen bestehenden Wohnraums – darum, die „Seele der Orte zu erleben“.
Auch das im ländlichen Schwarzwald gelegene Schöne Leben, eine improvisierte Umgestaltung eines traditionellen Hotels, möchte alles sein, nur nicht perfekt – ganz im Sinne des japanischen ästhetischen Konzepts Wabi Sabi, das die Schönheit in den einfachen Dingen sieht. Vielleicht ist das die Essenz aller Pop-Ups und Zwischennutzungen: Das Spüren der Authentizität eines Ortes, das bewusste Zelebrieren der kleinen Dinge, die einen Ort zu einem besonderen machen.
Ob temporär genutzt oder für die Ewigkeit gebaut, ob perfekt oder unperfekt: Jede Art der Gestaltung eines Ortes hat seine Berechtigung. Das Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze kann sehr bereichernd sein – das gilt für die Architektur genauso wie für die Gesellschaft. Um das zu erreichen, sollte man im besten Fall nicht immer abwarten, bis man die perfekte Lösung gefunden hat – unter Umständen verpasst man sonst einen ganz wunderbaren Moment.
Text: Tina Barankay
Bildnachweise: The Lovelace © Thomas Kiewning © Steve Herud (1 – 4), Blink Luxury Trips von Black Tomato (Titelbild, 5, 6), © Stéphane Gautronneau, Stable Stack © Reinder Bakker (7-9), Grätzlhotel Sylvette © Martina Lajczak (10-12), Das schöne Leben © Joshua Rzepka (13-15)
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