Ein Flirt mit Le Corbusier
Die schwedische Kunstkuratorin Sofia Mavroudis über das Erbe der Olivenbäume, die Identität eines Ortes und ihre architektonische Liebelei mit Le Corbusier inmitten der Wildnis Kretas.
Jedes Jahr im November werden die kretischen Hügel unter den Strahlen der Wintersonne von einer schier endlosen Zahl silbern schimmernder Olivenbäume mit Leben erfüllt. Traktoren, Netze und Menschen mit Stöcken – früher aus Holz, heute mechanisch – wandern von Baum zu Baum, um die Oliven zu pflücken und sie in das „grüne Gold des Mittelmeers“ zu verwandeln. Traditionell ist der Olivenanbau eine Familiensache, bei der alle mit anpacken. Antonis wandert seit seiner Kindheit in den späten 1980er Jahren durch diese Hügel, kennt jeden Winkel in- und auswendig und führt das Erbe seiner Familie fort.
Antonis’ Großvater wurde Ende der 1890er Jahre, zu Zeiten des Osmanischen Reichs, in einem kleinen Dorf unweit der kretischen Westküste geboren, in einem Haus, das um 1600 erbaut, von den Osmanen erobert und zurückerobert wurde und sich noch immer im Besitz der Familie befindet. Das Dorf heißt Dermitziana und zählt heute noch etwa zehn Seelen. Sein Name leitet sich vom türkischen Wort demirci für Schmied ab, hatten doch die osmanischen Paschas hier ihre Schmiedewerkstätten eingerichtet und alles, von Töpfen und Pfannen bis hin zu Gewehren, im Dorf herstellen lassen.
Als Künstler, der sich damit beschäftigt, wie Geschichte und Identität an einem konkreten physischen Ort miteinander verwoben sind, hat Antonis die Arbeit Mein Großvater, der Osmane, der Kreter, der Grieche geschaffen – ein Porträt seines Großvaters, der bereits vor seinem 20. Lebensjahr drei nationale Identitäten besaß – und das, ohne dafür jemals seine Heimatstadt zu verlassen: Die Osmanen verließen Kreta im Jahr 1898 und die Insel wurde für autonom erklärt, 1913 wurde sie dem griechischen Festland angegliedert.
Nachdem die türkischen Eroberer abgezogen waren, wurden die Felder der Gegend den Einheimischen überlassen. Es war eine ziemlich knifflige Angelegenheit, das Land gleichmäßig aufzuteilen, denn das Gebiet war, anders als heute, nicht nur mit Olivenbäumen bepflanzt. Vielmehr gediehen hier je nach Höhenlage Trauben, Orangen, Kartoffeln, Bananen, Sesam, Dinkelweizen und verschiedene Gemüsesorten. Der Olivenhain, auf dem wir die beiden cabanons unseres Cabanon Concrete Retreat gebaut haben, ist eines dieser Felder und liegt etwas außerhalb von Dermitziana. Schon als sehr kleiner Junge spürte Antonis deutlich, dass diese Hügel eine magische Aura umhüllt – von hier aus eröffnet sich eine atemberaubende Aussicht und die unzähligen Olivenbäume vermitteln ein Gefühl von Geborgenheit. Damals konnten sich jedoch nur wenige Menschen vorstellen, warum es überhaupt erstrebenswert sein sollte, an diesen abgelegenen Ort zu kommen. Die meisten Kretareisenden strömten in die großen, All-inclusive-Hotelresorts an der Küste. Seitdem hat sich das touristische Angebot der Insel glücklicherweise stark verändert.
Ich war noch nie auf Kreta gewesen, bevor ich mit Antonis dorthin reiste. Als Kind griechischer Eltern bin in Stockholm geboren und aufgewachsen, doch ich fühlte mich nie einem bestimmten Ort wirklich zugehörig. Kein Ort dieser Welt hat meine Identität besonders geprägt, vielmehr bin ich ein Kind der Globalisierung. Vielleicht entwickelte ich während meiner Ausbildung zur Kunstkuratorin gerade deshalb ein Faible für das Studium der steten, naturgemäßen Interaktion einer Person mit ihrer Umgebung.
Der Begriff ortsspezifisch tauchte zum ersten Mal im Kontext der minimalistischen Kunst in den 1960er Jahren auf. Ein Ort wurde aufgrund seiner tatsächlichen physischen Attribute wahrgenommen – Wände, Decke, Lichtverhältnisse oder natürliche Umgebung, wenn er sich im Freien befand. Beim Platzieren eines Kunstwerks oder eines Bauwerks müssen verschiedene Parameter berücksichtigt werden: Standort, Maßstab und Materialien, aber auch die eher flüchtigen, atmosphärischen Aspekte. Sind Berge in der Nähe oder ist die Luft von der Meeresbrise durchdrungen? Wie sieht es hier bei strahlendem Sonnenschein oder gar bei Regen und Gewitter aus? Verändert sich das Wesen des Ortes durch das platzierte Kunstwerk? Da alles Teil eines größeren Ganzen ist, ist ein Ort niemals nur die Summe seiner physischen Attribute – so, wie ein antiker Ort ohne seine Geschichte ein völliger anderer wäre. Die Geschichte, Symbolik und Identität eines Ortes haben an Bedeutung gewonnen. Die subjektiven Interpretationen einer jeden Person, die ihn besucht, haben an Gewicht gewonnen: Ihre Lebensgeschichte, ihr Wissen oder ihre historischen Referenzen, aber auch die Stimmung des Augenblicks, das Wetter und sogar jene Menschen, die sie begleiten, spielen eine bedeutsame Rolle und fügen dem Erlebnis weitere Schichten hinzu. Und schließlich avancieren auch die Intentionen derjenigen Personen, die den Ort schaffen, ihre persönlichen Bezugs- und Standpunkte zu Komponenten der Ortsspezifik. Das ist das Faszinierende an einem Ort: Er ist so viel mehr als nur ein Ort.
Als Antonis und ich das Cabanon Concrete Retreat schufen, hatten wir all diese Gedanken im Hinterkopf. Der physische Rahmen ist Kreta, eine Insel im Mittelmeer. Die Kulisse ist der Olivenhain, den Antonis’ Familie mit ihrer Geschichte geprägt hat und der mit der Geschichte der Insel verwoben ist. Wir mussten uns auch mit Fragen des Tourismus und den Erwartungen der Gäste auseinandersetzen. Was erwarten sie und inwieweit ist das den kretischen Stereotypen geschuldet? Und schließlich war da noch Antonis’ und mein künstlerischer Ansatz, der die cabanons zum Kunstprojekt erhob. Wie konnten wir unserem ästhetischen Empfinden Form geben, etwas Ortsspezifisches schaffen und das Erleben des Ortes durch die ihn umgebende Natur und die spektakulären Aussicht intensivieren?
Ich liebe Le Corbusier und seine klaren geometrischen Formen, seine offenen, effizienten Räume, in denen die Form der Funktion folgt. Weder Antonis noch ich mögen das Maßlose, vielmehr haben wir uns dem Slow Living verschrieben, dem wahren Minimalismus, der so viel mehr ist als ein bloßer Designstil. Also kombinierten wir Le Corbusiers moderne Architektursprache und Materialien wie rohen Beton, Stahl und Glas mit dem Konzept und der Atmosphäre seiner persönlichen kleinen Ferienhütte, die er für sich und seine Frau Yvonne in Cap-Martin, direkt über dem französischen Mittelmeer, gebaut hatte. Das passt insofern ganz wunderbar, als die ländliche kretische Landschaft mit ähnlich anmutenden einfache Hütten übersät ist, die von Hirten und Bauern als Lagerräume errichtet wurden, in der Regel aus Beton oder anderem billigen und leicht aufzutreibendem Material. Als wir unsere Hütten bauten, stießen wie bei vielen Einheimischen auf Verwunderung. Sie fragten sich, aus welchem unerfindlichen Grund wir wohl Lagerräume an der Spitze einer Klippe bauen wollten.
18 Jahre lang verbrachte Le Corbusier jeden August in Le Cabanon und lebte den modernen utopischen Traum vom einfachen Sommerleben. Seine Hütte besteht aus einem einzigen, 3,6 mal 3,6 Meter messenden holzverkleideten Raum, ohne Küche und Waschgelegenheit im Inneren. Stattdessen war sie über eine interne Zwischenwand mit der Fischtaverne L’Etoile de Mer verbunden, die Thomas Rebutato gehörte. Der Klempner aus Italien hatte beschlossen, sein Glück mit einem einfachen Restaurant an der Küste zu versuchen. Die beiden Männer wurden Freunde, und im Austausch dafür, dass Le Corbusier Zugriff auf das Grundstück neben der Taverne erhielt, um Le Cabanon zu bauen, realisierte er für Rebutato fünf miteinander verbundene Ferienhütten. Dieses für den Mittelmeerraum typische Verhältnis von Geben und Nehmen verweist auf das Leben, das Le Corbusier im Sommer dort genoss. Es ist eine Geschichte, die von endlosen Mußestunden bei einfachen Mahlzeiten mit Freundinnen und Freunden handelt, vom Dösen in der heißen Mittagssonne, vom ohrenbetörenden Zirpen der Zikaden und vom Salz auf der Haut. Und von aromatischen Tomaten, die gepflückt werden und direkt in den Mund wandern. Die Beziehung zur Natur und die ganz eigene Bedeutung von Zeit machen klar, auf welche Weise das Mittelmeer und seine archaische Szenerie, die gleißende Sonne, die salzige Luft und das authentische langsame Leben Reisende über alle Jahrhunderte hinweg immer wieder zu verzaubern vermochten.
Le Corbusier liebte das Mittelmeer und sein Licht, seine antiken Zivilisationen und die raue Natur. Wir teilen beides mit dem Meister: die Liebe und die Landschaft. Wir haben das Innere mit dem Äußeren verwoben und Räume geschaffen, die sich auf das Wesentliche beschränken und vor allem dazu dienen, die Seele baumeln zu lassen, die Meeresbrise zu spüren und sich Zeit für das Nichtstun zu nehmen, um neue Inspiration zu schöpfen. Ich bin mir sicher, Le Corbusier wusste um die heilsame Wirkung von Auszeiten zwischen produktiven Phasen.
Die Dinge in unseren cabanons sind einfach. Aber es ist eine Einfachheit, aus der echte Erlebnisse geboren werden. Sie schafft Raum für menschliche Begegnung, ermöglicht eine neue Sichtweise auf das Konzept der Zeit, öffnet Seele und Sinne für die Schönheit des Augenblicks und den Geschmack einer frisch gepflückten Tomate aus dem Gemüsegarten. Diese Einfachheit lässt existenzielle Fragen aus der Stille heraus entstehen. Du fühlst dich der rauen Natur ausgesetzt und tief mit ihr verbunden, streckst nachts die Hand nach der Milchstraße aus und grüßt die Schafe, die zu Besuch kommen. Antonis und ich haben gelernt, den Dingen ihre Zeit und ihren Lauf zu lassen, die kleinen Gesten zu schätzen, das Subtile und die Tiefe eines Augenblicks. Letztendlich ist es das, was wir unseren Gästen mitgeben möchten: Wir stupsen sie an und laden sie dazu ein, wahren Luxus zu erleben.
Der griechische Künstler Antonis Choudalakis und die schwedische Kuratorin Sofia Mavroudis schufen ihr Cabanon Concrete Retreat als bewohnbares Kunstprojekt. Die minimalistischen Hütten konzentrieren sich auf die Erfahrung des Ortes und die Interaktion mit der Umgebung.
Text: Sofia Mavroudis. Dieser Beitrag erschien erstmals im Rahmen unserer Buchveröffentlichung
Raum & Zeit
Fotos: © Sofia Pitidou, Alpha Smoot, Sofia Mavroudis, Dimitris Barounis
Ein Kommentar
wir waren schon zu Gast dort, es war einer der schönsten Sommer Kretas in diesem wunderbaren Olivenhain, das Gastgeberpaar ist reizend, die Anfahrt etwas verwegen, weil die beiden kleinen Häuser im Hain versteckt liegen, was Teil der Qualität ist. absolut empfehlenswert!