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Kultur Gut Hasselburg – Sinfonie aus Architektur und Musik

Zwischen Ostsee und Naturpark Holsteinische Schweiz liegt ein vollständig erhaltener Gutshof aus dem 18. Jahrhundert, der auf imposante Art eine Symbiose aus denkmalgeschützter und moderner Backsteinarchitektur, Urlaub auf dem Land und erstklassigem Musikgenuss ist.

von Anke Frey im Februar 2024

Kultur Gut Hasselburg – Sinfonie aus Architektur und Musik

Ouvertüre.

„Architektur ist erstarrte Musik“ – Mit den Worten des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling mache ich mich auf den Weg in den Norden zu einem Ort, an dem Musik und Architektur eine leidenschaftliche Verbindung eingehen. Vorbei an endlosen Feldern, Wiesen und Baumalleen, scheinbar schwerelos gleitend über die sanften Hügel, die die Eiszeit hier einst hinterlassen hat, biege ich erwartungsvoll von der Landstraße ab und folge der 300 Meter langen Lindenallee. An ihrem Ende öffnet sich der Blättervorhang, und ich stehe am „Tor zur Musik“. Es fühlt sich an wie der Moment, wenn der Dirigent den Taktstock hebt: erwartungsvolle Stille.

Eigentlich fehlen jetzt nur die Turmbläser, die mir beim Anblick der Kuppel des Turmhauses vorm geistigen Auge erscheinen und mit hellen Fanfarenklängen die Ankunft neuer Gäste ankündigen. Stattdessen zwitschern Vögel auf Streuobstwiesen vor dem Eingang munter durcheinander. Ein Pflasterweg, gesäumt von roten Backsteinmauern, führt direkt durch das Torhaus hinein in eine andere Welt. Und so wie die meisten Besucher, die das Kultur Gut Hasselburg zum ersten Mal betreten, bleibe ich unwillkürlich stehen.

Endlose Wasserwelten.

Einst haben wuchtige Gletscher in Ostholstein den Ton angegeben. Hinterlassen haben sie eine kontrastreiche Landschaft, die die Region im nordöstlichen Zipfel Schleswig-Holsteins heute zu einer der beliebtesten Urlaubsregionen Deutschlands macht. Sonnenhungrige Badegäste belagern im Sommer die Strände der traditionsreichen Ostseebäder: Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Grömitz – Namen, bei denen Kindheitserinnerungen wach werden. Wer hat nicht hier schon eine Sandburg gebaut oder nach Hühnergöttern, den schwarz-weißen Glückssteinen mit Loch, gesucht? Flache Sandstrände und raue Steilküsten wechseln sich ab, Strandkörbe schützen vor steifen Brisen.

Im Hinterland lockt der Naturpark Holsteinische Schweiz mit seinen malerischen Hügeln, den über 200 glasklaren Binnenseen und landestypischen Knicks, freiwachsenden Wallhecken, die unter Naturschutz stehen und einst die Felder parzelliert haben. Alpine Herausforderungen sucht man in dieser Region vergebens. Der Bungsberg mit seinen 168 m, die höchste Erhebung Schleswig-Holsteins, ist schnell und mühelos erklommen. Dafür stößt man überall auf Wasser, mit dem Rad, zu Fuß oder dem Kanu finden sich schöne Badestellen und mit ein bisschen Glück kreist ein Seeadler am Himmel.

Das Wasser spielt eine wichtige Rolle. Während es heute die Touristen anlockt, brachte früher der Seehandel Wohlstand. Die nahgelegene Hansestadt Lübeck, einst wichtigstes Handelszentrum Nordeuropas, schickte Schiffe über die gesamte Ostsee. Heute ist Lübeck mit seinen sieben Kirchtürmen und dem berühmten Holstentor ein touristisches Highlight, und ein Spaziergang durch die Gassen der Altstadtinsel, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, lohnt genauso wie der Besuch des Europäischen Hansemuseums.

Zwischen Naturpark und Ostseeküste, dort, wo die Landschaft eher flach ist, liegen die für die Region typischen Gutshöfe. Eine ausgeschilderte Radtour führt vorbei am Leben einer vergangenen Zeit, in der Adelsfamilien das Sagen hatten und auf den Höfen Hunderte von Landarbeitern sich um Äcker und Vieh kümmerten. Viele Höfe sind noch immer im Besitz namhafter Familien. Nicht so das Kultur Gut Hasselburg, das die Hamburger Stahlberg Stiftung 2010 erwarb und über mehr als ein Jahrzehnt sanierte. Ein Glücksfall aus architektonischer und historischer Sicht.

Von der Wasserburg zum Kultur Gut.

Der Gutshof aus dem 18. Jahrhundert zeigt sich heute noch in seiner ursprünglichen Form: Kein Gebäude wurde im Laufe der Jahrhunderte abgerissen oder verändert. Eine Seltenheit. Einzigartig ist auch der symmetrische Aufbau. Das Torhaus bildet zusammen mit dem Kuhhaus (norddeutsch für Kuhstall) und der großen Reetdach-Scheune den ehemaligen Wirtschaftsteil. Dem gegenüber, versteckt hinter Bäumen und Wassergraben, liegt das Herrenhaus mit zwei seitlichen Kavalierhäusern.

Das spätbarocke Herrenhaus ersetzte zu Beginn des 18. Jahrhunderts die ehemalige Wasserburg „Hasselborgia“, deren Ursprung ins 13. Jahrhundert reichte. Die festliche Halle mit ihrer illusionistischen Deckenmalerei ist ein lebendiges Zeugnis barocker Raumkunst in Schleswig-Holstein und dient damals wie heute als Konzertsaal. 1763 war es der Eutiner Hofbaumeister Georg Greggenhoffer, der dem Gutshof sein unverkennbares Gesicht gab. Das Torhaus mit goldener Turmuhr und Rundbogentürmchen gilt als sein Meisterwerk und als das größte und eleganteste in der Region.

Besucher, die das Gut Hasselburg zum ersten Mal betreten, sind oft sprachlos. Manche umrunden staunend den fußballfeldgroßen Platz, andere bleiben stehen, um dann zielstrebig das Schwein auf der Wiese anzusteuern, das sich als Kunstobjekt mit Sitzbank entpuppt. Es ist die Mischung aus Leere und Größe, die fasziniert. Wie die Instrumentengruppen eines Orchesters stehen sich die Gebäude gegenüber, jedes nimmt ein wenig divenhaft seinen Platz ein, setzt sich in Szene, weiß aber auch, dass es ohne die anderen nicht glänzen kann.

Schall und Reet.

Auch ich frage mich, wo ich anfangen soll. Die Antwort nimmt mir dankenswerterweise der Hausherr persönlich ab. Constantin Stahlberg, promovierter Volkswirt, Musiker und Komponist, führt mich zur Scheune mit dem deutschlandweit größten Reetdach.

Der Zufall brachte Constantin Stahlberg 2010 zum Gut Hasselburg in die Gemeinde Altenkrempe unweit von Neustadt in Holstein. Ein wenig überrumpelt, so erzählt er, sei er von der Möglichkeit gewesen, das Gut zu erwerben. Wer ihn ein wenig kennenlernt, weiß sofort, dass er nicht zu den Menschen gehört, die sich überrumpeln lassen. Aber begeistern. Ins Risiko zu gehen, das war er aus seiner Zeit als Unternehmer gewohnt. Die Schönheit des Ensembles und die Einzigartigkeit des Ortes faszinierten ihn. Und sein Musikerherz füllte die Räume bereits mit Klängen, während morsche Holzbalken noch auf wackeligen Füßen standen.

Vielleicht waren es aber auch Constantin Stahlbergs Gene, die ihn motivierten, Hasselburg zu einem Ort der Musik und Kultur zu machen. Als Sohn einer schlesischen Gutsherrenfamilie wuchs er in Hamburg auf, wohin die Eltern nach Ende des Zweiten Weltkriegs geflüchtet waren. Am Küchentisch oder bei Familientreffen waren das Gutsleben – ebenso wie das gemeinsame Musizieren – immer präsent. Bereits in jungen Jahren spielte und organisierte er Konzerte an ungewöhnlichen Orten. Für die von ihm 2002 gegründete Stahlberg Stiftung, die sich um Förderung von Jugend- und Kulturprojekten sowie Denkmalpflege kümmert, hatte er mit Hasselburg einen idealen Ort gefunden, nicht ahnend, auf welches Abenteuer er sich einließ.

Von der Giebelseite betreten wir die Scheune und automatisch wandert mein Blick nach oben. Der 24 Meter hohe First und das von innen sichtbare Reet scheinen über der historischen Holzkonstruktion zu schweben. Die Orgel am Ende der 74 Meter langen Halle wirkt aus der Ferne wie ein Altar: Eichenholzkathedrale – so wird das Gebäude genannt. Der Name passt. Es riecht nach Stroh und doch wirkt alles modern. Der graue Estrichboden und die professionellen Traversen für Licht- und Tontechnik zeugen von der heutigen Nutzung als Konzertsaal, in dem, so fügt der erfahrene Musiker mit einem schelmischen Lächeln hinzu, jede noch so kleine Ungenauigkeit zu hören ist. Reet schluckt Schall.

Umbau in drei Akten.

Jede große Reise fängt mit dem ersten Schritt an, soll einst Marco Polo gesagt haben, bevor er mit dem Segelschiff in Richtung Osten startete. Ganz so lang wie die Reise des berühmten Venezianers hat die Sanierung der baufälligen Gebäude und der Umbau zum heutigen Kultur Gut Hasselburg dann doch nicht gedauert. Eine Lebensaufgabe ist es aber dennoch. Schritt eins, die Sanierung der Konzertscheune, war rückblickend die leichteste Teilaufgabe. Das große Reetdach wurde einseitig neu gedeckt, die alten Fundamente ausgetauscht. Dafür wurde die Scheune abschnittsweise ausgekoffert und die Feldsteine durch Betonstreifenfundamente ersetzt. Die großen Mengen an Aushub verstecken sich jetzt unter den Hügeln der der das Gut umgebenden Wiese.

Um das Kultur Gut Hasselburg als Musik- und Kulturort zu etablieren, brauchte es ein wirtschaftlich tragbares Konzept. Dieses sah von Anfang an eine zweigleisige Nutzung vor:  als Veranstaltungs- und als Urlaubsort. Diese beiden Welten sollen sich dabei durchdringen und voneinander profitieren. Das war der Start für Schritt zwei: die Sanierung des Torhauses. Neun Ferienwohnungen, elf Gästezimmer und ein Café befinden sich dort, wo einst Pferde standen, die Verwalter in der Borgstube das Personal einteilten und Werkstätten und Schmiede ihren Platz fanden.

Für die denkmalgerechte, hochwertige Sanierung wurde das Torhaus 2015 mit dem BDA-Preis Schleswig-Holstein und dem Denkmalschutzpreis ausgezeichnet. Das Hamburger Architekturbüro BIWERMAU ließ Altes sichtbar und nahm Rücksicht auf die ursprünglichen Funktionen. Von außen ist die neue Nutzung kaum zu erkennen. Die aufgearbeiteten historischen Fenster und die Backsteinfassade erstrahlen im alten Glanz. Lediglich die großen Holztore im Erdgeschoss sind Glasflächen gewichen.

Dahinter liegen großzügig geschnittene Ferienwohnungen, benannt nach Musikinstrumenten. Dunkelgraue Steinböden, weiße, teils unverputzte Ziegelwände und maßgefertigte Küchen und Möbel aus Eichenholz sorgen für ein modernes Flair. Im einstigen Pferdestall erzählen eingekerbte und abgeknabberte Holzpfosten von den früheren Bewohnern. Jetzt schläft man in Beethoven oder Chopin, den nach Komponisten benannten Gästezimmern.

Bei den Wohnungen im Turmhaus, die mit ihren modernen Küchen- und Treppeneinbauten Loftatmosphäre versprühen, lohnt ein Blick in den Eingangsbereich: Die auf dem Boden liegenden Gotlandplatten aus Kalkstein von der schwedischen Insel Visby zeugen von den Anfängen der „Ur-Hanse“. Sie waren jahrhundertelang ein wichtiges Handelsprodukt und liegen heute noch in vielen alten Häusern der Region.

Mit der Fertigstellung der Konzertscheune und des Torhauses 2014 wurde das Kultur Gut ein Urlaubsort mit Musikangebot. Neben den zahlreichen öffentlichen Konzerten leben und arbeiten Nachwuchsmusiker und junge Talente dank Residenz-Stipendien der Stahlberg-Stiftung auf dem Gutshof. Ihre erarbeiteten Stücke präsentieren sowohl vor großem Publikum als auch auf Wunsch bei Eins-zu-Eins-Konzerten für interessierte Urlauber.

Das große Finale.

Jetzt fehlte nur das letzte Puzzlestück: das Kuhhaus. Aufgrund des schlechten baulichen Zustands stimmte das Denkmalamt einem Abriss unter der Auflage zu, dass die beiden Giebelseiten sowie die Hoffassade erhalten blieben. Für den Neubau reichte eine Skizze mit wenigen Strichen, um den Bauherrn zu begeistern. Der Architekt Henrik Gruß vom Hamburger Architekturbüro Beissert + Gruß fügte der bestehenden Mittelachse eine weitere Symmetrieachse hinzu, setzte das Kuhhaus mit der Scheune in eine räumliche Beziehung und verband gleichzeitig den Innenhof mit der Parkseite.

Das Motiv der sich kreuzenden Achsen übertrug er auf einen mittig liegenden Konzertsaal. Das Spiel mit der sakralen Kreuzform bildet – nicht ganz unabsichtlich – einen Kontrapunkt zur Holzkathedrale.

Das Ergebnis überrascht und wurde ebenfalls mit dem BDA-Preis Schleswig-Holstein ausgezeichnet. Gelobt wurde die spannende architektonische Erzählung, die der Neubau hinzufügt. Sein Herzstück bildet der im Grundriss kreuzförmige Konzertsaal aus dänischen Klinkersteinen, bei dem sich die vier Endsteine passgenau in der Mitte treffen. Auch wenn dies kaum einem auffällt: Es ist das Ergebnis einer präzisen Vorplanung, bei der in die Negativform der Holzschalung bereits alle Steinpositionen mitgedacht und eingefräst wurden. Auf der Rückseite sind sieben Maisonette-Ferienwohnungen entstanden, die vom freien Spiel mit Gauben, Loggien und großen Fensterflächen profitieren. Die Materialien und das Farbkonzept in den Wohnungen ähneln denen des Torhauses.

Versteckte Welten.

Apropos Rückseite: Wie bei Schallplatten befinden sich die wahren Schätze manchmal versteckt auf der B-Seite. Auch beim Kultur Gut Hasselburg ist es zunächst die A-Seite, die historische Gutsanlage, die fasziniert und alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber erst die Rückseite macht die Vielfalt des Ortes begreifbar, gleichsam auch nahbarer. Beim morgendlichen Spaziergang rund um den Gutshof, während sich die ersten Sonnenstrahlen langsam durch die Nebelfelder schieben, lerne ich das Kultur Gut noch einmal neu kennen.

Die monumentale Backsteinarchitektur löst sich in zahlreiche gemütliche Kleinode auf. Von den Terrassen der Ferienwohnungen aus sieht man mit ein bisschen Glück Wildgänse am Horizont vorbeifliegen. Diese versteckte B-Seite gehört allein den Übernachtungsgästen. Vom Bett aus fällt der Blick auf Apfelbäume oder über die große Parkfläche bis hin zum Kirchturm der Basilika von Altenkrempe. Die Scheune schaukelt gemütlich durchs Schilf und das Kuhhaus spiegelt sich im Wassergraben. Ruhe und Weite dominieren. Der Gutshof scheint endlos entfernt und ich bekomme große Lust, mich im Liegestuhl auf der Streuobstwiese in einem Buch zu verlieren. Die Entscheidung zwischen den zwei Welten, dem kontemplativen Außen und dem energiegeladenen Innen, kann jederzeit durch ein paar Schritte neu getroffen werden.

Allegro con brio – mit Lebenslust und Freude.

Es ist das Verdienst der Stahlberg Stiftung und ihres Gründers Constantin Stahlberg, dass die lange Geschichte des Gutshofs nicht als verfallene Ruine endet. Die Sanierung der Gebäude war aber nur der erste Schritt. Sie mit Leben zu füllen, ist die eigentliche Aufgabe. Und so strömen jedes Jahr musikbegeisterte Gäste zu den Konzerten des Kammermusikfests sowie des Kammermusikpreises. Sehr viel bunter wird es dagegen im August. Dann sitzen Menschen auf Liegestühlen und Decken auf der großen Wiese im Innenhof, haben Picknickkörbe aufgeklappt, genießen die Musik und den Trubel. Diese „Musikfeste auf dem Lande“, die im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals auf dem Gutshof Station macht, bringen Musikkenner und Urlauber, Städter und Nachbarn zusammen. Ganz im Sinne des Kulturvermittlers. Musik und Kultur in die ländliche Region zu bringen und dabei Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen, dass, so sagt er, hätte wohl auch etwas mit seiner Prägung zu tun. Ideen haben er und sein Team noch viele. Neben regelmäßigen Konzerten finden ein Bürgerfest, ein Nikolaus-Event mit Turmbläsern und Klavierkonzerte für Kinder in der Weihnachtszeit statt. Einen Rundweg mit Outdoor-Musikinstrumenten wird es geben und wetterfeste Boxen für die Eins-zu-Eins-Konzerte. Das Tor zur Musik steht auch in Zukunft weit offen für alle, die in die Welt der Klänge eintauchen wollen – ob im Urlaub oder nur für einen Konzertbesuch. Allegro con brio: mit Lebenslust und Freude.


Text: Anke Frey, Februar 2024

Fotos: © Anita Back, Robert Meyer, Anke Frey, Beissert + Gruss Architekten, Constantin Stahlberg, Ferdinand Graf von Luckner, Stahlberg Stiftung, www.ostsee-schleswig-holstein.de / Oliver Franke (Fotos 4 – 6)

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