Progressive Provinz: Die Zukunft liegt auf dem Land
Was ist möglich, auch wenn die Landflucht groß ist und Leer- bzw. Stillstand den Alltag regieren? Ein Gespräch mit dem Kleinstadtentwickler, Visionär und Ex-Journalisten Frederik Fischer, der seit Jahren neuen Wind auf dem Land sät.
URLAUBSARCHITEKTUR (UA): Frederik, mit Neulandia und dem Summer of Pioneers schiebst du schon seit Jahren das Thema Wohnen und Arbeiten auf dem Land an, vornehmlich in Ostdeutschland. Wie sind deine Erfahrungen, welche Erfolge siehst du?
Die wichtigste Erfahrung ist, dass man wirklich viel bewegen kann in ländlichen Räumen. Dass Politik dort gestaltbar ist, unmittelbar erfahrbar und dass sie sich für Politiker auch „bezahlt“ macht. Während man auf der großen politischen Bühne ja doch eher den Eindruck hat: egal, was man macht, man kriegt immer irgendwie eines auf den Deckel.
Das erleben wir in ländlichen Räumen anders: Politiker, die sich richtig reinhängen, die eine Vision verfolgen und sehen, dass diese umgesetzt wird. Das kommt vor Ort nicht bei allen an, aber doch bei einer Mehrheit.
Ein konkretes Beispiel: Der Bürgermeister von Wiesenburg, mit dem ich gerade ein langes Gespräch geführt habe, hat schön beschrieben, wie er selbst durch die Zusammenarbeit am KoDorf unglaublich viel gelernt hat.
Einerseits technisch, also etwa betreffs Bauleitplanung oder Baurechtsverfahren, aber eben auch strategisch – wie wichtig Öffentlichkeitsarbeit ist, wie wichtig gute Beziehungen zu Fördermittelgebern sind, einfach politisches Lobbying: Netzwerke in die Kreativszene, in urbane Räume. Es war total schön zu sehen, wie er eine „Lernreise“ beschrieben hat. Und v.a. mit Happy End. Er ist jetzt wiedergewählt worden und kann bestätigen, dass die Arbeit vor Ort honoriert wird. Das hat man auch gerade in der ZDF-Doku gesehen.
UA: Was hat eigentlich den Ausschlag gegeben, dich als Medienwissenschaftler und Volkswirtschaftler gerade diesem Themenkomplex zu widmen?
Ich habe bereits kurz nach meinem Studium und Volontariat den klassischen Journalismus verlassen und ein erstes Medien-Startup gegründet. Mit einem Accelerator-Programm konnten wir ins Silicon Valley ziehen und wurden Partner von Twitter. In San Francisco habe ich eine Form von Obdachlosigkeit und Verwahrlosung erlebt, wie sie in Deutschland damals unvorstellbar war. Im Vergleich zu der Wohnungskrise erschienen mir die Tech-Startups mit ihren oft zynischen Geschäftsmodellen zunehmend uninteressant.
Für Innovation begeistere ich mich aber weiterhin. Nun ist es eben die sogenannte Soziale Innovation, die mich umtreibt. Und das Soziale ist dann auch wirklich das, was mich an Architektur am meisten fasziniert. Gute Architektur kann einen wichtigen Beitrag leisten zu einer funktionierenden Gemeinschaft.
UA: Kannst du uns ein Beispiel geben, was sich bestenfalls in einer Kommune alles in wenigen Jahren ändern kann?
Die gute Nachricht vorneweg: Sehr viel. Als Beispiel möchte ich Wittenberge nennen. Dort haben wir 2019 den ersten Summer of Pioneers organisiert. Die Stadt war damals der Inbegriff des Wendeverlierers. Nahezu alle großen Industriebetriebe wurden nach der Wende innerhalb weniger Jahre abgewickelt. 40 Prozent der Menschen wanderten ab. Der Leerstand war enorm.
Durch den Summer of Pioneers und die breite mediale Berichterstattung über das Projekt, sowie die engagierte Arbeit der Verwaltung, der Pioniere und der Zivilbevölkerung änderte sich die Stimmung.
Die Pioniere belebten Leerstände, starteten Beteiligungsprojekte und holten Künstler:innen in die Stadt. Einige Pioniere bildeten eine Art Willkommensagentur – die Elblandwerker. In Kooperation mit der Wohnungsbaugesellschaft bieten sie Gästewohnungen an und helfen Menschen beim Ankommen vor Ort. Aus den ursprünglich 18 Pionieren, die vor Ort blieben, ist inzwischen eine Community von knapp 400 Menschen geworden, die sich auch aktiv in die Stadtentwicklung einbringen.
Zahlreiche Folgeprojekte brachten neue Akteure und mehrere Millionen Euro an Fördermitteln in die Stadt. Vorläufiger Abschluss dieser positiven Entwicklung ist die Entscheidung des Bundesbauministeriums, die Kleinstadtakademie in Wittenberge anzusiedeln. Das Projekt wird über fünf Jahre mit zehn Millionen Euro ausgestattet und soll Kleinstädte im gesamten Bundesgebiet in ihrer Entwicklung unterstützen.
UA: Das Team von Neulandia ist kürzlich gewachsen … das sieht nach großen Zukunftsplänen aus. Was packt ihr als Nächstes an?
Unsere Ansätze funktionieren. Das können wir nach fünf Jahren wirklich sehr gut belegen. Das motiviert uns, dem eingeschlagenen Weg zu folgen. Ich möchte mich in Zukunft aber noch mehr mit innovativen Lösungen für den Bestand beschäftigen. Neubau ist derzeit prohibitiv teuer – insbesondere, wenn man ökologisch und sozial verantwortungsvoll bauen möchte.
Wir sind immer auf der Suche nach Impact – Investoren und Stiftungen, die an einer Zusammenarbeit interessiert sind. Ich bin mir sicher, dass wir an einem der zentralen Themen unserer Zeit arbeiten. In der Wohnungskrise kommt alles zusammen: Ökologie, Ökonomie, Politik und Gesellschaft. Antworten auf die Wohnungskrise lösen daher immer eine Vielzahl von Problemen gleichzeitig. Genau das mach die Auseinandersetzung mit dem Thema so spannend und relevant.
UA: Welche spezielle Rolle kann Architektur in euren Vorhaben spielen?
Ich bin weder gläubig noch spirituell veranlagt. Neben Musik ist Architektur für mich die einzige Quelle von Transzendenzerfahrungen. Nicht zuletzt dank Urlaubsarchitektur und dem Glück, in einer historischen Gartenstadt leben zu dürfen, konnte und kann ich herausragende Architektur nicht nur als Beobachter, sondern als Bewohner (auf Zeit) genießen und vergleichen.
Ich bin immer wieder verblüfft, wie gelungene Gestaltung Glücksgefühle auslösen kann und mich umgekehrt lieblose Gestaltung unmittelbar traurig stimmt. Gelungene Gestaltung hat dabei nicht zwingend etwas mit Opulenz und teuren Materialien zu tun. Auf die Gefahr hin, doch etwas spirituell zu klingen: Es ist die „Seele“ von Räumen und Gebäuden, die deren Qualität ausmacht. Neben der Architektur spielt hier auch Storytelling eine große Rolle. Hier sehe ich wiederum den Beitrag, den ich als Fachfremder leisten kann.
UA: Du warst schon öfter über Urlaubsarchitektur in Europa unterwegs. Wie erlebst du unsere Partner:innen und ihre Häuser?
Seit vielen Jahren mache ich zusammen mit meiner Frau fast ausschließlich Urlaub in den von euch kuratierten Ferienhäusern. Wir wurden noch nie enttäuscht. Als besonderen Luxus empfinde ich es, wenn wir mit den Eigentümer:innen oder Architekt:innen selbst ins Gespräch kommen können.
Eine Erfahrung möchte ich hervorheben. In Porto (das ich allen Architektur-Liebhabern ohnehin ans Herz legen möchte) waren wir in den Na Travessa Suites, sehr zu empfehlen. Die Gastgeberin Mariana war umwerfend herzlich zu uns und unserer Tochter. Sie erkundigte sich bereits im Vorfeld, was unserer Tochter gefällt und organisierte entsprechende Spielzeug, das bei unserer Ankunft schon im Zimmer lag. Sie und das gemeinschaftsbasierte Konzept dieses Hauses sind uns sofort ans Herz gewachsen.
Ebenfalls in Porto durften wir in einem Haus von Pritzkerpreisträger Souto de Moura wohnen. Über de Moura wiederum bin ich auf seinen Lehrer Alvaro Siza aufmerksam geworden. Beide haben meinen Blick auf Architektur nachhaltig verändert.
Oft steht Urlaubsarchitektur dann auch am Anfang unserer Urlaubsplanung. Das Ziel ist beliebig. Im Mittelpunkt steht das Haus. So haben wir schon viele Orte bereist, die wir andernfalls nie besucht hätten.
UA: Welche Initiativen und Orte sollten wir uns, auch abseits von Neulandia, unbedingt merken?
Innovative Ansätze sind z.B. beim Überland-Festival Görlitz zu finden. Insgesamt wichtig ist die unermüdliche Arbeit der Bundesstiftung Baukultur. Was mich auch immer wieder beeindruckt: Die aktive Bürgerkultur in Mittweida. Nicht zu vergessen die Initiative Nonconform, die nicht nur Architektur, sondern partizipative Möglichkeitsräume schafft. Auch die Vielleben Genossenschaft, mit der wir die KoDörfer entwickeln, verdient Aufmerksamkeit. Ich könnte die Liste noch lange fortsetzen. Es gibt unzählige Organisationen, Initiativen und Personen, die fernab der Metropolen neue Maßstäbe setzen und den Wandel vorantreiben.
Zur Person
Frederik Fischer ist auf einem Dorf mittelgroß geworden, hat seine Kindheit in einer Kleinstadt verbracht und zog dann in die weite Welt. Er studierte Medienwissenschaft und Volkswirtschaft in Hannover, Aarhus, Amsterdam, London und Washington, hat in Berlin mehrere Startups mitgegründet. Inzwischen ist er allerdings der Überzeugung: Die wirklich aufregenden Zukunftsentwürfe entstehen in der Provinz. Diese treibt er u.a. als Geschäftsführer von Neulandia seit Jahren konsequent voran – insbesondere mit dem Residenzprojekt Summer of Pioneers und dem an den Gartenstädten orientierten KoDorf-Quartiersentwicklungen.
Interview: Ulrich Stefan Knoll
Bildnachweise: © Fini Ludwig (Titelbild), Wiesenburg, © Melanie Adloff (1), KoDorf Wiesenburg, © agmm Architekten (2, 4, 5), Luftaufnahme KoDorf Wiesenburg, © Uwe Manteuffel (3), Summer of Pioneers Grabow, © Britta Liermann und Veit Grünert /Bureau Now (6 – 12), Besuch von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck beim Summer of Pioneers in Grabow, © Frederik Fischer (13, 14), Na Travessa Suites, © José Campos (15 – 18), Casa1015, © Tiago Casanova (19 – 21), Bundesbauministerin Klara Geywitz und die Stiftung Baukultur zu Besuch bei der Kleinstadtakademie Wittenberge, © Frederik Fischer (22), Frederik Fischer, © Martin Gommel (23)
0 Kommentare